Einblicke: Benjamin Schließer über Reformation heute

Einblicke: Benjamin Schließer über Reformation heute

Zugegeben, ich bin nach wie vor von Martin Luther fasziniert. Ich hatte noch nie das Gefühl, dass ich mit ihm fertig bin oder dass ich ihn vollständig kapiert habe. Im Gegenteil, je mehr ich von ihm lese und lerne, desto mehr bewegt er mich und fordert mich heraus. Im Reformationsjahr werden Sie viel von Luther und der Reformation sehen und hören.
Die einen stellen ihn auf den Sockel und machen ihn zum Denkmal. Die anderen interessieren sich für seine dunklen Seiten. Ich möchte mit Ihnen vier Runden um Luther drehen. Nicht um das Denkmal, auch nicht um das Dunkle, sondern einfach um Luther als Mensch – als Teamplayer, Menschenfreund, Bibelliebhaber und Beter. Dabei soll vor allem Luther selbst zu Wort kommen.
 
Teamplayer.
Auch heute noch könnte der Satz Schlagzeilen machen: „Mönch heiratet Nonne“. Damals, am 13. Juni 1525, war es ein handfester Skandal. Martin Luther und Katharina von Bora heirateten. Es war keine romantische Liebe auf den ersten Blick. Luther war überzeugt, dass er nicht für die Ehe geschaffen war: „Ich bin weder Holz noch Stein, aber mein Sinn steht der Ehe fern.“ Er war 42 Jahre alt und lebte nur für seine Sache: Er lehrte, disputierte, predigte, schrieb, reiste. Und – man muss es wohl so sagen – er verlotterte dabei ein wenig.

Katharina war als entlaufene Nonne auf dem Heiratsmarkt schwer vermittelbar. Mehrere Anläufe, sie unter die Haube zu bringen, scheiterten. Schließlich entschieden sich die beiden zur Heirat. Was sich nach Zweckgemeinschaft anhört, war in Wahrheit beeindruckendes Teamplay.
Die Familie Luther lebte im Anwesen des ehemaligen Augustinerklosters in Wittenberg. Katharina Luther übernahm die Bewirtschaftung, betrieb Viehzucht, braute Bier und verköstigte die unzähligen Studenten und Gäste. Briefe von Katharina Luther an ihren Mann sind leider nicht erhalten, dafür aber etliche aus seiner Feder. Weil sie im Haus die Hosen anhatte, nannte er sie humorvoll „Herr Käthe“. Einen Brief schrieb er an „meine freundliche liebe Hausfrau, Katharina Luthers von Bora, Predigerin, Brauerin, Gärtnerin und was sie mehr sein kann.“ Natürlich war Luther auch ein Kind seiner Zeit, sein Rollenverständnis aus dem 16. Jahrhundert. Und doch trug er dazu bei, eingefahrene Strukturen zu reformieren. Nicht nur im Haus, sondern in anderen Bereichen hatte er Menschen um sich, die er in sein Leben sprechen ließ:

Philipp Melanchthon zum Beispiel kam als 21-jähriger nach Wittenberg. Luther erkannte schnell seinen Scharfsinn und war sich nicht zu schade, ihn trotz seiner Jugend in sein Bibelübersetzungsteam zu holen. Mit einem Augenzwinkern meinte Luther: „Körperlich ein junger Mann, seinem bewundernswerten Geist nach ein grauhaariger Greis.“ Seinen alten Beichtvater Johann von Staupitz schätzte er als Seelsorger und Mentor. Hätte dieser ihn nicht in seinen Depressionen begleitet, wäre er darin „ersoffen“. Obwohl „Manager“ der Reformation, war Luther kein Einzelkämpfer oder Egomane. Er hatte einen Blick für die Gaben und Fähigkeiten einzelner Menschen. Nicht nur in der Politik ist ein solches Teamwork nötiger denn je, sondern auch in unserer Kirche, unseren Gemeinden, unseren Gruppen und Kreisen. Mir kam zu Ohren, dass die Gemeinde in Böhringen darum bemüht ist, Menschen zu helfen, ihre Begabungen zu entdecken und zu entfalten. Das wäre ganz bestimmt im Sinne des Reformators.
 
Menschenfreund.
Luther orientierte sich an der Sprache der „normalen“ Menschen. „Dem Volk aufs Maul schauen“ war seine Devise. Dadurch schaffte er es, das Herz der einfachen Menschen und den Kopf der Gebildeten anzusprechen. Die Sprache war ein Talent, das Luther von Gott erhielt, und er wusste damit zu wuchern. Beim Übersetzen des Neuen Testaments überlegte er mitunter tagelang, wie er die kraftvollen biblischen Bilder ins Deutsche übertragen könnte.
Er war ja bekanntlich kein Kind von Traurigkeit und lästerte über die phantasielosen Übersetzungen anderer. Die „Esel und Buchstabilisten“, wie er die gebildeten Leute ohne Sprachgefühl nannte, würden z.B. Mt 12,34 so übersetzen: „Aus dem Überfluss des Herzens redet der Mund.“ Luther spottet: „Sag mir, ist das Deutsch? Welcher Deutsche versteht so was? Was ist ‚Überfluss des Herzens‘ für ein Ding? … ‚Überfluss des Herzens‘ ist kein Deutsch; so wenig wie das Deutsch ist: ‚Überfluss des Hauses‘, ‚Überfluss des Kachelofens‘ oder ‚Überfluss der Bank‘, sondern so redet die Mutter im Haus und der Mann auf der Straße: ‚Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.‘“ Wie müssten wir heute formulieren, frage ich mich?
Luther saß aber nicht nur über seinen Büchern. Um etwa die Opfertexte des Alten Testaments gut zu verstehen, verließ der Professor seine Studierstube und ging zum Wittenberger Dorfmetzger, der ihm genau erklären musste, wie die Innereien der Schlachttiere genannt wurden. Nachzulesen in 3. Mose 3,9. Nur so vermochte er es, die alten Texte in eine gut verständliche Sprache zu bringen.

Mich fasziniert, dass Luther keinerlei Berührungsängste hatte. Er war sich nicht zu schade, seinen Klosterberg zu verlassen und sich in die verschlungenen Gassen Wittenbergs hinabzubegeben. Beim Metzger machte er seine Hände schmutzig, verschmierte seine Kleider – aber das Wort Gottes wurde ihm lebendig.
Luther spornt mich an, so über meinen Glauben zu reden, dass darin die Kraft des Evangeliums spürbar wird und die Menschen in Kopf und Herz erreicht. Dabei beruhigt es mich, wenn ich lese, dass selbst der große Sprachkünstler Luther nicht immer mit dem Ergebnis zufrieden war. Der eingeprägte lateinische Wortlaut, den er ja auswendig kannte, hinderte ihn manchmal daran, „gut deutsch“ zu reden.
Die Macht der Gewohnheit kann auch unseren Glauben verstauben. Lassen Sie uns kreativ sein, uns immer wieder neu dem Wort Gottes aussetzen und es in unseren Alltag hineinnehmen. Gott spricht nicht eine weltfremde „Sprache Kanaans“, sondern die Sprache Badens, Böhringens und – in meinem Fall – Berns! Gott wurde in Jesus selbst zum „Wort“ und lebte und redete unter uns (Joh 1,14), im Stall Bethlehems und in der Villa des Schri gelehrten Nikodemus.
 
Bibelliebhaber.
Luther liebte die Bibel, vor allem die Paulusbriefe und das Johannesevangelium. Er war überzeugt, dass jeder Christ den Römerbrief nicht nur komplett auswendig kennen sollte, sondern auch täglich wie „mit täglichem Brot der Seele umgehe“. Im Studium nahm ich mir einmal vor, den Römerbrief auswendig zu lernen, kam aber leider nicht über Röm 1,17 hinaus. Doch da steht bereits der wichtigste Satz des Briefs.
Fragen Sie doch einmal Ihren Pfarrer, wie weit er gekommen ist! Über den Galaterbrief sagte er einmal: „Der Brief an die Galater ist mein Brief, mit dem ich vermählt bin; er ist meine Käthe von Bora.“ Da war ihm v.a. Gal 2,16 wichtig. Doch wie jeder Ehemann weiß: Man wird die Liebste nie ganz verstehen, und liebt man sie noch so sehr. Das wusste auch Luther.
Nach seinem Tod wurde ein Zettel mit seinen letzten schriftlichen Worten gefunden: „Die Hirtengedichte Vergils kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Hirte gewesen. Die Dichtungen Vergils über die Landwirtschaft kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Ackermann gewesen. Die Briefe Ciceros kann niemand verstehen, er habe denn 25 Jahre in einem großen Gemeinwesen sich bewegt. Die Heilige Schrift meine niemand genug geschmeckt zu haben, es sei denn, er hat hundert Jahre lang mit Propheten wie Elias und Elisa, Johannes dem Täufer, Christus und den Aposteln die Gemeinden regiert… Wir sind Bettler, das ist wahr!“

 
Beter.
Meine erste Begegnung mit Luther, an die ich mich erinnere, waren meine Sommerferien als Siebenjähriger auf dem Bauernhof meiner Großeltern. Jeden Morgen wurde nach Stallarbeit und Frühstück Luthers Morgensegen gebetet. Ein tiefsinniges, persönliches Alltagsgebet, das über die Jahre immer mehr auch zu meinem eigenen Gebet wurde.
„Darum ist’s gut, dass man früh morgens lasse das Gebet das erste, und des Abends das letzte Werk sein, und hüte sich mit Fleiß vor diesen falschen trügerischen Gedanken, die da sagen: Warte noch, in einer Stunde will ich beten, ich muss dies oder das zuvor noch tun, denn mit solchen Gedanken kommt man vom Gebet ins Schaffen, das hält und umfängt einen, dass aus dem Gebet des Tages nichts wird.“
Des Morgens, wenn du aufstehst, kannst du dich segnen mit dem Zeichen des heiligen Kreuzes und sagen:
Das walte Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist! Amen
Darauf kniend oder stehend das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser. Willst du, so kannst du dies Gebet dazu sprechen:

Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diese Nacht vor allem Schaden und Gefahr behütet hast, und bitte dich, du wollest mich diesen Tag auch behüten vor Sünden und allem Übel, dass dir all mein Tun und Leben gefalle. Denn ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde.

Als dann mit Freuden an dein Werk gegangen und etwa ein Lied gesungen
oder was dir deine Andacht eingibt.“
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen!


 
Dr. Benjamin Schließer
ist Professor für Neues Testament
an der Universität Bern.

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